Gemeinschaftsgefühl
Eine angeborene Möglichkeit
Adler sieht das einzelne Individuum in ein grosses Ganzes eingebettet. Unter diesem versteht er die soziale Situation, auf welche der Mensch mit dem Gemeinschaftsgefühl reagiert: Was immer wir tun, unsere Handlungen sind unsere persönliche Antwort auf die Umstände des menschlichen Lebens. „Jede Antwort muss der Tatsache Rechnung tragen, dass wir zur Menschenfamilie gehören.“ (Alfred Adler) In diesem Sinn ist es Anlage und Fähigkeit:
„Wie bereits betont, haben all die Probleme des Lebens eine starke soziale Bedeutung. Der Mensch muss für eine richtige, normale, lohnende und erfolgreiche Lösung vorbereitet sein. Das heisst er braucht ein ausreichendes Mass an Gemeinschaftsgefühl. Deshalb muss der Baustein, den wir angeborene Möglichkeit des Gemeinschaftsgefühls nennen, zum Leben erweckt und wirksam gemacht werden.“ (Alfred Adler)
2006 formuliert Joachim Bauer, der zahlreiche neurobiologische Forschungsarbeiten publiziert hat, in seinem Buch “Prinzip Menschlichkeit“ die These, dass wir von Natur aus kooperieren bzw. dass wir – neurobiologisch betrachtet – auf Kooperation und soziale Resonanz ausgerichtet sind. Damit distanziert er sich deutlich von dem als allgemein gültig angesehenen naturwissenschaftlichen Standpunkt, dass das Prinzip der Konkurrenz die Antriebsfeder der Menschheit sei.
Bauer schränkt allerdings ein:
„Nichts wäre irriger als die Annahme, es gäbe eine genetische Ausstattung, die eine Art der Garantie dafür darstelle, dass der Mensch sich im Hinblick auf seine Beziehungs-und Kooperationsfähigkeit gesund entwickelt. Die genetische Ausstattung kann lediglich garantieren, dass die neurobiologischen Werkzeuge dafür vorhanden sind.“ (Joachim Bauer 2006)
Das erinnert an die angeborene Möglichkeit zur Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls, die Adler als wesentlichen Baustein genannt hat. Er betont: „Wir können keinem sogenannten sozialen Instinkt vertrauen, denn seine Ausdrucksform hängt davon ab, wie das Kind seine Umgebung begreift und sieht.“
Für ihn beginnt diese Entwicklung mit der Geburt, vor allem dadurch geprägt, wie das Kind die Beziehung zu seiner Mutter erlebt. Adler bezeichnet diese Phase als „erste Kultivierung einer angeborenen Möglichkeit“, bei der naturgemäss etwas schieflaufen kann. Es handelt sich demnach um einen Lernprozess. Heute weiss man, dass die Bedeutung der Beziehung auch auf die Entwicklung des Kindes nicht erst niederschlägt, wenn es bereits auf der Welt ist. Gerald Hüther und Inge Krens zeigen in dem Buch „Das Geheimnis der ersten neun Monate“ (20079) anschaulich die vorgeburtlichen Prägungen durch Beziehung auf. [10]
Massstab für psychische Gesundheit
Menschen mit gut entwickeltem Gemeinschaftsgefühl erfüllen ihre Lebensaufgaben – Liebe, Gemeinschaft und Arbeit – in freundschaftlichem Wohlwollen und Bewusstsein der Zusammengehörigkeit. Sie fühlen sich unzertrennlich verbunden mit dem Rest der Menschheit. Sie fühlen, dass sie dazugehören und, dass sie beitragen können und, dass die Gemeinschaft sie braucht.
Ein wenig ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl kann nach Adler ein Verhalten auf der unnützen Seite des Lebens nach sich ziehen, das zum Nachteil für die Gemeinschaft wird. Die Gesundheitspsychologie stellt fest, dass ein Mangel an Gemeinschaftsgefühl auch Auswirkungen auf die Gesundheit hat